Auf den Spuren des Bahnpioniers Flagler | NZZ (2024)

In Palm Beach gibt es Villen und Paläste. Den prächtigsten von allen hat Henry Morrison Flagler seiner dritten Frau zur Hochzeit geschenkt. Der Eisenbahnkönig wollte aus Florida eine amerikanische Riviera machen. Die Bahn führte schliesslich bis nach Key West, sie rentierte aber nicht, und 1935 machte ihr ein Tornado den Garaus.

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In Palm Beach gibt es Hunderte prachtvoller Villen und Paläste. Den prächtigsten von allen hat Henry Morrison Flagler seiner dritten Frau zur Hochzeit geschenkt. 1901 war der Eisenbahnkönig 71 Jahre alt. Die erste Frau war gestorben, von der zweiten hatte er sich Mitte der neunziger Jahre getrennt, als er sie einer Gemütskrankheit verfallen glaubte. Der dritten, der 37-jährigen Mary Lily Kenan, legte er die 55 Räume umfassende Whitehall von Palm Beach zu Füssen, die von einem zeitgenössischen Reporter wenig zutreffend als «Taj Mahal Nordamerikas» bezeichnet wurde.

Hadrian, Dante und ein «Bal poudré»

Zur falschen Einstufung könnte ihn das Zahnpastaweiss der Säulen und Mauern verleitet haben, doch der Erbauer hatte die europäische Antike, die Renaissance und französisches Rokoko vor Augen. Er wollte aus dem 1890 noch dünn besiedelten Florida eine amerikanische Riviera machen. Florida war das Land mit der ältesten Geschichte, aber mit den letzten Siedlern. 1513 war der Spanier Ponce de León 200 Meilen weiter nördlich gelandet, ein halbes Jahrhundert später gründete Pedro Menendez auf Geheiss des spanischen Königs an eben der Stelle das Städtchen St. Augustine, die älteste von Europa aus gegründete Siedlung Nordamerikas. Sie ist, von Souvenir-Tourismus ziemlich entstellt, bis heute erhalten. In Virginia und in Neuengland tauchten die Europäer erst im 17. Jahrhundert auf. Die Besiedlung Floridas ging dann aber erst nach der blutigen Unterdrückung der Seminole-Indianer weiter. Miami oder Palm Beach wuchsen weitgehend im Gefolge von Henry Flaglers Pioniertaten heran.

Schon die Anfahrt zum Palast, der 1960 in ein Museum umgewandelt wurde, ist bemerkenswert. Zwischen Kokospalmen, Grapefruit- und weit ausladenden Feigenbäumen stehen Repliken antiker Vasen und Amphoren, antiken Mustern nachgebildete Sitzgruppen. Alle sind wie die Originale mit Reliefs versehen. Marmor in fünf verschiedenen Farben fand bei der Gestaltung der mächtigen Eingangshalle Verwendung, und an prominenter Stelle steht eine Kopfbüste von Kaiser Augustus. In der Bibliothek im italienischen Renaissancestil finden sich Bronzebüsten von Hadrian und Dante Alighieri, ein Gipsabguss in der Ecke könnte Friedrich Schiller darstellen. Ein vatikanisches Zimmer ist, wie es sich gehört, mit einer vergoldeten Kassettendecke geschmückt, auf die Gemäldegalerie mit indirekter Beleuchtung folgt das Musikzimmer mit der wohl grössten Orgel, die je in einem Privathaus gebaut wurde.

Ein Billardraum erhielt wegen ländlicher Malerei den Namen Schweizer Zimmer. Im Ballsaal fand jeden Winter am Geburtstag von George Washington ein «Bal poudré» statt, das mondänste Ereignis dieser Art südlich von Washington D. C. Der Raum erinnert an Versailles, die Rocailles sind mit Gold verziert. Annähernd deckungsgleich mit Flaglers Lebensdaten ist das sogenannte «vergoldete Zeitalter», das hier ausgiebig gefeiert wird.

Immer ein Bogen nach dem andern

An der Rückseite des Hauses liegt der Lake Worth, das durch langgestreckte Inseln geschützte Binnengewässer, das sich von North Carolina über Hunderte von Kilometern bis an die Südspitze Floridas hinunterzieht. Hier wurde nach Flaglers Tod ein zwölfstöckiger Hotelturm angebaut und später wieder abgerissen. Wem der Prunk im Palast zu üppig ist, mag sich an Flaglers persönlichem Eisenbahnwagen erfreuen, wo alles auf das Funktionale ausgerichtet ist. Der bald hundert Jahre alte Wagen enthält Aufenthalts- und Schlafräume, Badezimmer, Küche und auch ein Klappbett für den Koch. Der Eisenbahnmagnat muss es genossen haben, an Bord Gäste zu empfangen und zu bewirten.

Zu Reichtum war Henry, der Sohn des verarmten Presbyterianerpfarrers Isaac Flagler, indessen nicht durch die Bahn gekommen, sondern als Mitgründer und Teilhaber von Standard Oil. Als seine erste Gattin in den siebziger Jahren kränkelte, zog er von New York nach Florida. Er ahnte die ungeheuren Entwicklungsmöglichkeiten des sonnigen Landes mit seinen milden Wintern und seinen fruchtbaren Böden, stieg aus dem Ölgeschäft aus und gründete ein grosses Hotel nach dem andern. Die unternehmungslustige Julia Tuttle aus Chicago bewegte ihn dazu, immer weiter nach Süden zu gehen. Doch ohne Anreisemöglichkeiten blieben die komfortabelsten Hotels leer, und so baute Flagler auch eine Bahn. Sie ging 1894 bis Palm Beach, zwei Jahre später wurde Miami erreicht. Von hier wagte er den ganz grossen Sprung über mehr als ein Dutzend Inseln und die Inselchen (spanisch «cayos») bis zum 156 Meilen entfernten Key West. Wer an der Realisierbarkeit des Projekts zweifelte, dem entgegnete er, wenn man einen Brückenbogen nach dem andern baue, komme man unvermeidlicherweise einmal in Key West an. Das war dann 1911. Bei der Eröffnung im Januar 1912 wurde Flagler an der Endstation wie ein Gott gefeiert.

Heute noch führt Amtrak täglich einen Autozug von Washington bis Sanford bei Orlando. Er wird vor allem von Leuten gerne benutzt, die im Süden über einen zweiten Wohnsitz verfügen, ferner von der nicht geringen Zahl von Pensionierten aus New York und anderen Metropolen, die ihren Alterssitz in die Wärme verlegt haben. Sie haben alle ihre politische Überzeugung mitgenommen, und so entstanden in Florida kompakte, meist demokratische Alterssiedlungen. Der Autozug fährt um vier Uhr nachmittags los, die Fahrt dauert gut 16 Stunden. Der Passagier wird gut bewirtet - umsichtiger als im Flugzeug -, doch die Personenzüge haben gegenüber Gütertransporten Nachrang. «Es war viel Verkehr auf den Schienen heute Nacht», erklärt, die Verspätung entschuldigend, während des Frühstückskaffees eine anonyme Stimme über Mikrophon.

Flagler hätte wohl andere Prioritäten gesetzt, aber er hatte auch ein anderes Publikum. Für dieses begann das Reiseabenteuer in der Mitte Floridas erst richtig. Von hier ging es nach Miami, das heute höchstens noch von Pendlern mit der Bahn angelaufen wird, und von da über die Keys bis Key West. 100 Meilen südlich davon liegt Havanna, und wer auf den kleinen Inseln von der Langeweile angenagt wurde, konnte das Schiff nach Kuba besteigen. Träumen heute begüterte Leute vielleicht von einem Raumflug, muss vor hundert Jahren das Inselhüpfen mit einem ähnlichen Hochgefühl verbunden gewesen sein.

Das kann man mit dem Wagen heute nur bedingt nachvollziehen, weil der Verkehr sein Recht einfordert und nur kurze Blicke auf die Blumengärten und die unüberbietbare Farbenpracht von busch- und baumförmig gezogenen, in vier Farben strahlenden Bougainvillea-Arten zulässt. Auf der Fahrt in den äussersten Westen werden die Brücken immer länger und die Landmassen immer kleiner. Key West setzt zum Abschluss nochmals einen Akzent, ist etwas grösser, vornehmer und auch versnobter. Hier kann ein Privatzimmer an lärmiger Strasse auch 700 Franken pro Nacht kosten. Um den Hafen herrschen Verruchtheit und gespielter Überdruss wie im St-Tropez der sechziger Jahre. Als Flagler den Flecken Erde seinen Klienten zugänglich machte, scheint das Glücksspiel im Vordergrund gestanden zu sein. Heute sind es Sonnenuntergänge, laute Rhythmen und kühles Bier. Den Eisschrank gab es auch vor hundert Jahren schon, doch er musste lange vorher präpariert werden.

Die Möglichkeiten überschätzt

Die Eisenbahn nach Key West rentierte nicht, vielleicht weil der Mensch nicht geschaffen ist, vom Vergnügen allein zu leben. Flagler hatte dies bedacht und darauf gehofft, Key West lasse sich zu einem Güterumschlagplatz zwischen Mexiko, der Karibik und den Vereinigten Staaten entwickeln. Doch die Schifffahrt nahm andere Wege. Der Pionier starb im Jahr nach der Eröffnung und musste den Niedergang nicht miterleben. Das endgültige Aus für die Bahn kam am Labor Day von 1935, als eine sechs Meter hohe Flutwelle die Inseln heimsuchte und der schlimmste Tornado aller Zeiten den Zug auf der 7-Meilen-Brücke zwischen Long Key und Grassy Key in die Tiefe riss und den Viadukt zerstörte. Die imposante Eisenkonstruktion wurde stehen gelassen; nur da und dort wurde ein Bogen entfernt, damit Schiffe passieren können. Angler gehen darauf ihrer Freizeitbeschäftigung nach, Pelikane leisten ihnen dabei Gesellschaft. Das Meer hat den unverwechselbaren, einnehmenden, smaragdfarbenen Teint der Karibik, der Sand ist fein und weiss. Die Wassertemperatur beträgt im Spätwinter 24 Grad Celsius, aber die zum Schwimmen notwendige Tiefe ist zuweilen erst nach längerem Waten zu finden.

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